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Plastic World in der Schirn: Allgegenwärtig, bunt, verführerisch und doch problembehaftet

Plastik ist überall. Die Ausstellung „Plastic World“ in der Schirn in Frankfurt erzählt die Geschichte des „Kunst-Stoffes“ in der bildenden Kunst von der Euphorie in den 1960er-Jahren bis zur Ökokritik in der Gegenwart. Ein breites Spektrum an Farben, Formen und Fülle bietet ein Fest für das Auge und regt gleichzeitig zum Nachdenken darüber an, welche Rolle Plastik in einer Zukunft der Nachhaltigkeit spielen sollte.

Mit „Plastic World“ widmet die Schirn Kunsthalle Frankfurt der bewegten Geschichte von Plastik in der bildenden Kunst erstmals eine große Themenausstellung. Die Kuratorin der Ausstellung, Dr. Martina Weinhart, nennt als Grund: „Was sich inzwischen als enorme Belastung für die Umwelt herausgestellt hat, bedeutete für die Kunst, wie für Architektur und Design, eine ebensolche Bereicherung.“

„Plastic World“ versammelt rund 100 Werke von über 50 internationalen Künstlerinnen und Künstlern, die auf unterschiedlichste Weise mit verschiedenen Stoffen experimentierten. Gezeigt werden Objekte, Assemblagen, Installationen, Filme und Dokumentationen. Für Weinhart eröffnet die Materialgeschichte von Plastik „eine Erzählung voller Ambivalenzen: von zukunftsorientierter Innovationskraft und verführerisch anmutigen Objekten; von den schädlichen Auswirkungen, aber auch zur Frage nach neuen Wegen im Umgang mit diesem Material, das gekommen ist, um zu bleiben“.

Ein begehbares Sehmonster

Schon zu Beginn des Rundganges wird die Widersprüchlichkeit von Plastik deutlich. Auf 160 Quadratmetern präsentiert die Schirn das „Luftaquarium“ von Otto Piene. Zehn riesige, bis zu acht Meter große, aufblasbare und durchsichtige Seeanemonen sowie andere Seewesen machen die Welt unter Wasser erlebbar.

Als das Werk mit dem Titel „Anemones: An Air Aquarium“ 1976 erstmals gezeigt wurde, standen poetische und spielerische Aspekte im Vordergrund. Mit dem Wissen um die Verschmutzung der Meere durch kleine und kleinste Partikel von Plastik verschiebt sich der Blick. Zugleich macht das Werk deutlich, wie sehr Plastik als Material vergänglich sein kann. Durch den Zerfall des Vinyls war die ursprüngliche Installation nicht mehr funktionfähig. Für die Ausstellung wurde deshalb eine neue Version hergestellt.

Popkultur, Space Age, Noveau Réalisme und Ökokritik

Die Ausstellung spannt den Bogen über den Plastic Pop der 60er Jahre, der mit grellen, bunten Farben einen neuen Lifestyle für die Jugend etablierte, das Space Age mit seiner – so Martina Weinhart – „fröhlichen Umarmung von Utopien und Weltraum“, den Noveau Réalisme, der sich auf die dunkle Seite der Wegwerfgesellschaft konzentrierte, bis hin zur Ökokritik, die im Plastik eine ökologische Zeitbombe sieht.

Der Amerikaner James Rosenquist bannte einen Panzerwagen als „Forest Ranger“ auf einen martialischen, raumfüllenden Vorhang aus Polyesterfilm. Die Französin Niki de Saint Phalle schuf mit Siebdrucken auf PVC-Folie Nanas by Niki, die in der Ausstellung über der „Tassentasse“ von Thomas Bayrle schweben. Die Allgegenwart der Petrochemie reflektierten sowohl Öyvind Fahlström aus Schweden 1967 mit der Umkodierung des Markenzeichens von ESSO in LSD als auch Monira Al Qadiri aus Kuwait 2022 mit einem 3D-Druck, der Ölbohrköpfe wie majestätische Kronen erscheinen lässt.

Christo wechselte bereits 1965 die Perspektive. Er konzentrierte sich auf die Verpackung, wofür er berühmt wurde. Der Inhalt – in der Ausstellung ein Paket des Magazins „Look“ – rückt in den Hintergrund. Hans Hollein entwarf 1969 das Büro der Zukunft als aufblasbare Plastikfolie mit Telefon mit Wählscheibe, mechanischer Schreibmaschine, Bleistift und Radiergummi.

Konträre Sichtweisen italienischer Künstler: Gino Marotta fügte mit spielerischer Leichtigkeit aus grünem Acrylglas das künstliche Paradies „Eden Artificiale“ zusammen, eine modulare und keimfreie Nicht-Natur. Piero Gilardi schuf dagegen mit seinem „Palmeto“ aus Polyurethanschaum ein so fragiles Szenario vom Ende der Natur, dass sich die Ausstellungsleitung entschied, das Werk in der Transportkiste zu präsentieren.

Francis Alÿs filmte in seinem Werk „Barrendos“ Strassenkehrer in Mexico City bei der nächtlichen Beseitigung von Plastikmüll. Elias Sime aus Äthiopien verwendete für seine Materialcollagen Elektroschrott, Computerplatinen und Drähte, ummantelt mit buntem Plastik. Das Frankfurter Künstlerinnenkollektiv HazMatLab (Sandra Havlicek, Tina Kohlmann und Katharina Schücke) hat ihr „Atelier“ mit ungewöhnlichen Substanzen, wie synthetischen Schleim und industrielle Nagellacke überzogen und eine Plastik „Coral Cluster“ im 3D-Druck geschaffen.

Der Rundgang endet versöhnlich, verspielt, vielfarbig und verführerisch. Berta Fischer hat in diesem Jahr mit „Nironimox“ aus Acrylglas eine raumfüllende Skulptur geschaffen, die transparent und leicht unter der Decke schwebt und sich auf dem Parkett als Schatten widerspiegelt. Den Schlußakzent setzt ein grosses, gelbes Ausrufezeichen – ein einprägsames Symbol für die Ambivalenz der Werkschau, geschaffen von Richard Artschwager aus Plastikbürsten auf einem mit Latex überzogenen Mahagonikern.

Exponate in der Altstadt und im Senckenberg Museum

Vor der Schirn, in starkem Kontrast zur Frankfurter Altstadt, steht eine monumentale Installation von Pascale Marthine, der aus Kamerun stammt. Bunte Plastikeimer bilden die Krone eines verstörend schönen, künstlichen Baumes. Es ist ein plakativer Hinweis auf den massenhaften Umgang mit dem preisgünstigen Material – nicht nur in Afrika.

Im Senckenberg Naturmuseum Frankfurt mischt sich als Ergänzung zur Schirn unter die Wal-Skelette das Knochengerüst einer neuen Spezies von Meeresbewohnern: ein Wesen, das sich an die Verschmutzung der Meere angepasst hat und sich von Plastikmüll ernährt. Mit „An Ecosystem of Excess“ zeigt die Architektin Pınar Yoldaş ihre Vision künftiger Ökosysteme.

Informationen zum Besuch

Die Ausstellung in der Schirn Kunsthalle, Frankfurt, Römerberg, ist bis zum 1. Oktober 2023, dienstags bis sonntags von 10 Uhr bis 19 Uhr (mittwochs, donnerstags bis 22 Uhr) geöffnet. Das Senckenberg Naturmuseum ist montags bis sonntags von 9 Uhr bis 17 Uhr (mittwochs bis 20 Uhr, samstags, sonntags bis 18 Uhr) geöffnet. Die Ausstellungstexte ebenso wie der Ausstellungkatalog sind in deutscher und englischer Sprache verfügbar. Mehr zum Begleitprogramm mit Vorträgen, Führungen und Filmen unter https://www.schirn.de/ausstellungen/.

Erstmals präsentiert die Schirn zusätzlich eine innovative digitale und kostenlose Informationsplattform. Der Schirn 3D Parcours ermöglichst es, sich in virtuellen Räumen zu bewegen und die Materialgeschichte des Plastik digital zu erleben. Mehr dazu unter plastic.schirn.de.

 

Text und Fotos: Dr. Wolfgang Gerhardt

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