Am 29. September werden die FinTech Germany Awards 2021 verliehen – erstmals nicht in Frankfurt, sondern in Stuttgart! Wir haben Gerhard Wiesheu, Präsident von Frankfurt Main Finance und Vorstand beim Bankhaus Metzler, Michael Mellinghoff, Managing Director von Techfluence UK und Franz Công Bùi, Leiter der Online-Redaktion der Börsen-Zeitung, gefragt, welche Rolle der Standort für ein FinTech in einer digitalen Welt spielt und wo der FinTech Germany Award seine Reise durch Deutschland in den nächsten Jahren fortsetzt.
Berlin, Düsseldorf, Frankfurt, Hamburg, Köln, München, Stuttgart – Deutschland bietet gleich mehrere attraktive Standorte für FinTechs an. Was macht diese Städte zu gefragten Hubs für FinTechs?
Michael Mellinghoff | Gegründet wird zudem häufig dort, wo der Gründer wohnt, insofern überrascht es nicht, dass im dezentral strukturierten Deutschland ohne dominante Metropole wie London für England, Paris für Frankreich oder Wien für Österreich die größeren Ballungszentren sich zu Gründer-Hubs entwickeln. Aber vergessen Sie bitte nicht die vielen, vielen Startups, die nicht in den Ballungszentren angesiedelt sind. Wir haben in den vergangenen Jahren seit 2016 beim FTGA sehr viele Bewerbungen erhalten, die nicht aus den genannten Ballungszentren stammten. Gute Ideen können überall entstehen.
Gerhard Wiesheu | Der Brexit sorgte darüber hinaus für Bewegung, denn viele Londoner FinTechs haben ihren Hauptsitz unter anderem nach Frankfurt, Berlin oder München verlegt. Die Wahl dieser Unternehmen zugunsten des Wirtschaftsstandortes Deutschland wird von vielen Faktoren begünstigt: Dazu gehören beispielsweise günstige Finanzierungsbedingungen, Humankapital, vielseitige Ausbildungsmöglichkeiten, lebenswerte Städte und eine gute Infrastruktur. All das bieten die Standorte in Deutschland.
Franz Công Bùi | Bekanntlich bieten die genannten Ballungszentren eine Vielzahl an potenziellen Mitarbeitenden, die sich von einer Stadt eine größere Upward Mobility, aber auch vielfältige Angebote für die Work-Life-Balance versprechen. Dann gibt es dort logistische und technologische Vorteile, und es sind oftmals schon bestehende Ökosysteme vorhanden, was die Vernetzung mit anderen und auch die Positionierung des eigenen Angebots deutlich vereinfacht. Hinzu kommt vielfach auch eine gewisse Dichte an potenziellen Kunden und Kooperationspartnern, und mancherorts auch die Nähe zu Regulierungsbehörden oder anderen fürs Geschäft relevanten Institutionen.
Welche Rolle spielt die Standortwahl für FinTechs? Ist es in einer digitalen Welt nicht egal, wo der offizielle Unternehmenssitz ist?
Michael Mellinghoff | Ganz und gar nicht! Zwar kann man den rechtlichen Unternehmenssitz zunächst an einem anderen Ort haben, aber Gründer brauchen gerade in der Anfangsphase ihr Team in Rufweite. Nicht umsonst sagt man, dass bei Startup-Investments – erst recht in der Frühphase – das Team das A&O ist, solange das Geschäftsmodell sich noch nicht am Markt bewährt hat. In Pandemiezeiten ist das für junge Teams eine zusätzliche Herausforderung gewesen, aber die meisten erfolgreichen Gründer und Gründerteams zeichnen sich ja durch eine besondere Anpassungsfähigkeit aus.
Gerhard Wiesheu | Zwar spielt sich, vor allem in Pandemiezeiten, der Großteil der unternehmerischen Tätigkeiten digital ab, doch man sollte die Standortwahl nicht unterschätzen – denn irgendwo müssen die Mitarbeitenden leben. „Soft factors“ des Unternehmenssitzes wie Lebensgefühl, Offenheit, Internationalität, Kultur, Natur, Infrastruktur, Gesundheit, Sicherheit und Wohnen sind mehr als ein i-Tüpfelchen im Standortwettbewerb: Sie entscheiden, ob die Mitarbeitenden und ihre Familien sich wohlfühlen – und Deutschland kann damit absolut punkten.
Viele Unternehmen leiden unter den Einschränkungen der Pandemie, manche profitieren von der Situation, weil sie ein Katalysator für überfällige Digitalisierung ist. Inwiefern werden diese Entwicklungen nach dem Ende der Pandemie nachhaltige Veränderungen im Finanzsektor hinterlassen und FinTechs im Zentrum der Aufmerksamkeit bleiben?
Gerhard Wiesheu | FinTechs sind mittlerweile eine ernstzunehmende Konkurrenz für klassische Banken, da sie ihre Dienstleistungen dem Kunden ohne Umwege anbieten können. Laut einer Studie der Unternehmensberatung PwC könnten bis 2023 knapp 40 % aller europäischen Bankfilialen schließen, um Gewinneinbrüche zu kompensieren. Gleichzeitig verpassen viele den Sprung zur Digitalisierung – dementsprechend gering ist ihr Marktanteil bei digitalen Angeboten für ihre Kunden. FinTechs füllen diese Marktlücke, auch wenn ihre Gewinne und Marktanteile zurzeit noch geringer sind als die klassischer Banken. Die Finanzierungsrunden deutscher FinTechs der vergangenen Monate beweisen jedoch, dass die FinTech-Branche ein großes Wachstumspotenzial hat und digitale Innovationen innerhalb der Finanzbranche vorantreibt. Entsprechend groß ist das Interesse klassischer Banken an Kooperationsmöglichkeiten.
Franz Công Bùi | Derzeit ist zu beobachten, dass einige FinTechs sich zusammenschließen, einander übernehmen oder von etablierten Finanzdienstleistern übernommen werden. Gleiches gilt auch für viele handelnde Personen, denn auch hier hat es viele Wechsel aus FinTechs in zum Beispiel Banken gegeben. Interessant wird es sein, zu sehen, ob es dann wiederum genügend neue FinTechs und Gründer gibt, die nachwachsen und die entstehenden Lücken füllen. Und das hängt auch von den Rahmenbedingungen für Gründungen ab, bei denen es noch einige Luft nach oben gibt.
Michael Mellinghoff | Die Pandemie wirkt wie ein Brandbeschleuniger auf alle Geschäftsmodelle, die unmittelbar oder mittelbar von der durch die Pandemie erfolgte Lebensumstellung der Menschen profitieren. Die von Herrn Wiesheu genannten Studienergebnisse sind daher nachvollziehbar: Wenn vielen Kunden eine Bankfiliale nicht besuchen dürfen, können oder aus Vorsichtsgründen möchten, wird sich das Bankmanagement schnell die Frage stellen (müssen), ob diese teure Investition noch lohnenswert ist, wenn ohnehin die große Masse der Kunden onlinebanking-fähig und -willig ist. Ein schönes Beispiel sind auch die Online-Broker, die vom Handelssturm der zu Hause sitzenden Neu-Börsianer förmlich überrannt wurden.
Wie nachhaltig die neu erreichten Umsatzniveaus in den einzelnen Fintech-Sektoren sein werden, ist sektorabhängig und natürlich unternehmensspezifisch. Klar ist, dass die Umstellung der Lebensgewohnheiten – sonst ein eher langfristiger Prozess – quasi über Nacht geschehen ist bzw. geschehen musste.
Deutschland ist ein attraktiver Standort für ausländische FinTechs. Nicht umsonst vergibt der Fintech Germany Award die Auszeichnung „Best Foreign Entrant to Germany“. Inwiefern haben die Pandemie-Einschränkungen die länderübergreifenden Aktivitäten im FinTech-Sektor beeinflusst?
Michael Mellinghoff | Den Award für ausländische FinTech-Startups in Deutschland haben wir vor einigen Jahren beim FTGA eingeführt, weil der deutsche Markt auch aus internationaler Sicht ansprechend groß und damit als Dienstleistungsmarkt attraktiv ist. Ein großer Markt hat aber auch Nachteile: Er macht die Marktteilnehmer mitunter träge. In kleineren Märkten beobachten wir mitunter innovative Geschäftsmodelle früher als in Deutschland. Der Award für ausländische Startups hat also auch etwas von internationaler Wettbewerbsbeobachtung und -förderung.
Gerhard Wiesheu | Der FinTech-Sektor ist eindeutig einer der wenigen Gewinner der Corona-Pandemie, da die Digitalisierung von Finanzdienstleistungen – und auch in vielen anderen Lebensbereichen – immens beschleunigt wurde und somit das Geschäftsmodell der FinTechs beflügelt hat. Die weltweiten Lockdown-Einschränkungen haben große Teile des Wirtschafts- und Privatlebens in den digitalen Raum verlagert: Während internationale Lieferketten ins Stocken geraten oder ganz zum Stillstand gekommen sind, läuft das digitale Ökosystem ungebremst weiter. Gleichzeitig haben FinTechs die Zeit genutzt, sich durch Kooperationen mit klassischen Banken breiter und internationaler aufzustellen.
Franz Công Bùi | Es gab sicher Expansionspläne mancher FinTechs, die durch die Pandemie fürs Erste aufs Eis gelegt wurden. Aber letztlich ließ sich für mich ein richtiges Abebben der Bestrebungen, in die Märkte anderer Länder vorzudringen, nicht in der Breite wahrnehmen. Zum Teil ist bei manchen Startups sogar die Notwendigkeit unterstrichen worden, ins Ausland zu expandieren, um Wachstum zu generieren.
Was sind die Herausforderungen und Chancen, vor denen das deutsche FinTech-Ökosystem aktuell steht?
Gerhard Wiesheu | Es müssen gute Voraussetzungen für die Gründung und das Wachstum von FinTechs geschaffen werden: Beim Aufbau des digitalen Ökosystems hat Frankfurt beispielsweise viele richtige Schritte unternommen. So wurde Frankfurt neben Berlin ein Fördercluster für FinTechs. Mit Acceleratoren und Inkubatoren, der SDG-FinTech-Initiative für Nachhaltigkeit, dem Techquartier und dem FintechGermany Award sind wichtige Grundlagen gelegt. Es ist wichtig, dass die Finanzindustrie deutsche FinTechs beim Sprung in die Internationalität unterstützt. Gleichzeitig muss Deutschland ein guter Platz für Markteintritte internationaler FinTechs sein. FinTech kann nicht nur national gedacht werden, sondern ist immer in einen internationalen Kontext eingebettet.
Michael Mellinghoff | Das Internet ermöglicht erstmals in der Geschichte, so etwas wie globale Monopole. Die länderspezifische Regulierung verhindert das zwar im FinTech-Segment ein Stück weit, aber die Tendenz des Weges ist vorgezeichnet, siehe zum Beispiel Paypal. Leider ist die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass ein globaler Monopolist oder ein Quasimonopolist nicht aus der EU kommt. Diese Aussicht sollte eigentlich die einzelnen Hubs in Deutschland einen und letztlich auch die Kollaboration zwischen Banken und FinTechs befeuern. Ein starker Gegner eint. Wer das wann in welchem FinTech-Segment sein wird, ist aus meiner Sicht die spannende Frage.
Der FinTech Germany Award reist durch Deutschland und macht dieses Jahr in Stuttgart Halt. Können Sie schon verraten, wo in den nächsten Jahren die goldenen Zangen überreicht werden?
Michael Mellinghoff | Ich hoffe, dass wir in allen FinTech oder InsurTech-Hubs in Deutschland in den kommenden Jahren gastieren können. Denn Kernstück des FTGA ist die breit gefächerte derzeit 24-köpfige Jury, deren Mitglieder aus vielen Städten in Deutschland stammen und auch die Startup-Bewerbungen kommen verteilt aus der ganzen Republik.
Gerhard Wiesheu | Wir freuen uns natürlich erst einmal auf die diesjährige Verleihung in Stuttgart, können aber schon so viel verraten: Der nächste Fintech Germany Award wird definitiv in Deutschland verliehen.
Titelbild: FinTech Germany Award
Short List Foto: Sebastian Staines via Unsplash